darf man in diesen Zeiten überhaupt Romane lesen? Kurz vor Kriegsbeginn habe ich mit
Pynchons "Gegen den Tag" begonnen und wegen der besonderen Umstände insgesamt drei Monate gebraucht. Die Buchbeschreibungen von Pynchon sind immer vage gehalten, denn er hat einen speziellen Stil. Eigentlich geht es um die Familie Traverse mit ihren vier Kindern Reef, Frank, Lake und Kit. Eine zweite Geschichte ist die der Crew des Luftschiffes "Inconvenience". Es gibt auch einen Bösewicht, der wird gespielt vom Millionär Scarsdale Vibe. Handlungsstränge werden geknüpft und die Figuren geraten in teils lebensbedrohliche Situationen. Wilde Schiessereien, Sprengstoffattentate, Drogen, Sex, die Explosion in Tunguska und der 1. Weltkrieg, es geht ziemlich zur Sache.
Mich hat vorwiegend der physikalische Blick der Zeit interessiert. Dem Autor gelingt es das Zeitgefühl und die Stimmung der Zeit wiederzugeben. Es ist die Zeit um die letzte Jahrhundertwende, eigentlich ist in der Physik alles erforscht (Zitat Max Planck). Die Idee des Äthers ist damals noch die herrschende Lehrmeinung. Maxwell hatte gerade die Verbindung von Elektrizität und Magnetismus nachgewiesen, Tesla erfindet spektakuläre neue Geräte. In der Mathematik werden neue Denkmodelle geschaffen wie der dreidimensionale euklidische Raum (Quaternionen), Riemann und Hilbert erweitern die Euklidische Geometrie. Der Roman "Zeitmaschine" von H.G. Wells beflüget die Phantasien, erst die späteren Arbeiten von Einstein machen die Visionen von Zeitreisen obsolet, der junge Einstein wird nur einmal erwähnt. Organisatoren einer Zeitreise-Veranstaltung streiten sich darüber ob sie die Ordnungszahl 1 setzen sollen denn sie könnten ja durch Zeitreisen jeden beliebigen Zeitpunkt wählen und bereits zu einem früheren Zeitpunkt schon mal eine Veranstaltung abgehalten haben.
Ein Beispiel der "Freunde der Fährnis", also der Luftschiffer, sei erwähnt: sie experimentieren mit Islandspat (irgendsoein Calciumdingens, durchsichtig aber eigentlich nicht weiter interessant). Es stellt sich heraus, dass vermutlich die alten Wikinger dieses glasartige Ding lange vor der Erfindung des Kompasses benutzten um anhand der Polarisierung des Lichts die Himmelsrichtung zu ermitteln. Die Besonderheit ist die optische Wirkung dieses Islandspats: trifft Licht auf einen Islandspat, wird das Licht im Mineral in zwei Strahlen zerteilt, so dass hinter dem Mineral befindliche Gegenstände doppelt erscheinen. Im Roman wird in einer metaphysischen Wendung behauptet dass man bei einer Legierung durch den Islandspat den Gold- und Silberteil getrennt bekommt (S. 439).
in meiner persönlichen Wertung eines von Pynchons besten Romanen, einige Episoden sind urkomisch (der Junge Kit ist ein Physik-Genie und reist per Schiff von Harvard? nach Göttingen um dort die deutschen Mathematiker zu studieren. Auf der Schiffsreise wird durch militärische Befehle und Mobilmachung aus dem Passagierschiff ein Kriegsschiff mit unangenehmen Folgen für den Jungen), dann aber auch wieder ermüdende Längen (Flucht und Vertreibung im Weltkrieg). Habe den Roman vor 11 Jahren schon mal gelesen und davon nur in Erinnerung behalten dass es um Luftschiffe, Shambhala und sprechende Hunde ging. Hoffentlich bleibt diesmal mehr hängen...
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