RE: Deutschland - Wirtschaftsnachrichten, Analyen, Prognosen
| 22.10.2024, 01:48 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 22.10.2024, 01:50 von Boy Plunger.)Zitat:Deutschland zerbröselt - Teil I
Ende des 19. Jahrhunderts planten deutsche Ingenieure die Bagdadbahn, die in den folgenden Jahren von deutschen Firmen gebaut wurde und Deutschland den Ruf einbrachte, weltweit führend in der Finanzierung und Realisierung internationaler Infrastrukturprojekte zu sein.
Anfang des 20. Jahrhunderts waren es deutsche Passagierschiffe wie die Imperator oder später die Bremen, die den Atlantik mit gewaltiger Größe und Rekord-Geschwindigkeiten dominierten.
Wer noch schneller von Berlin nach New York oder nach Buenos Aires wollte, nahm deutsche Zeppeline, die im Liniendienst einen erstaunlichen Luxus boten (im Foto unten eine Lounge auf der Hindenburg).
Nochmals schneller ging es mit der Lufthansa Ende der 30er Jahre an Bord der majestätischen viermotorigen Focke Wulf 200 „Condor“ aus Bremen, die als erstes landgestütztes Passagierflugzeug nonstop die 6400 Kilometer lange Strecke von Berlin nach NY flog.
Auch Reisen innerhalb von Deutschland gingen flott. Die Zugverbindung Hamburg-Berlin war 1932 in etwa so schnell wie heute mit dem ICE, an Bord gab es zudem Telefonzellen mit Funktechnik, wahrscheinlich im Gegensatz zu heute ohne Funklöcher.
Im Krieg entwickelte Deutschland mit der Me 262 den ersten Düsenjäger der Welt. Zum Ende des Krieges war es die deutsche Rakete A4, die erstmals die Grenze zum Weltraum erreichte. Der erste moderne Computer, der Z3, wurde ebenfalls in dieser Zeit von Conrad Zuse entwickelt und gebaut.
Nach dem Krieg war Deutschland die unbestrittene Apotheke der Welt. Auch die besten Kameras und Objektive kamen aus Deutschland. Gleiches galt für Plattenspieler und Tonbandgeräte. Viele Studios aus aller Welt waren vollgestopft mit deutscher Technik. Zeitgleich erlebte der deutsche Maschinenbau einen globalen Siegeszug; die dort erlangten Fähigkeiten waren auch die technische Grundlage für den Bau der damals sichersten und leistungsfähigsten Atomkraftwerke der Welt - und das mit vergleichsweise überschaubaren Kosten. So konnte Deutschland von einem zerbombten Land zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen.
In der deutschen Flugzeugindustrie wurden experimentelle Senkrechtstarter mit fly-by-wire und kommerziell extrem erfolgreiche Hubschrauber (Bo 105) gebaut. In den 80er Jahren stellte Siemens Geschwindigkeitsweltrekorde mit dem ICE auf. Gleichzeitig wurde die extrem schnelle Magnetschwebebahn entwickelt, die dummerweise heute in China fährt, nicht in Deutschland.
Ab den 70er Jahren dominierte die Deutsche Automobilindustrie den Weltmarkt fast nach Belieben. Autos wie der C 111, der Porsche 959 oder die Baureihe W 126 von Mercedes Benz werden aufgrund ihrer technischen Genialität für immer Ikonen der Industriegeschichte sein. Vor 20 Jahren dominierte die deutsche Industrie zudem auch noch die Herstellung von Solarzellen, vor zehn Jahren immerhin noch die von Windkraftanlagen.
Deutschland zerbröselt - Teil II
Seit zehn Jahren stagniert die deutsche Wirtschaft, während der Rest der Welt wächst. Die Gesellschaft zweifelt am Fortbestand des Landes als Industrie- und Kulturnation.
Deutschland ist wie ein multimorbider Patient, es gibt keine einfache Erklärung für die Entwicklung. Ich will es trotzdem versuchen und fange mit der Wirtschaft an.
Wenn man wie Schumpeter den wirtschaftlichen Prozess als schöpferische Zerstörung versteht, dann braucht man dazu in Führungspositionen Leute, die das auch so leben. In zu vielen Fällen wird aber das Top-Management gerade in großen Unternehmen von Menschen dominiert, die nicht auf Disruption setzen, sondern auf Risikominimierung.
Das konfliktscheue Konsens-Mainstream-Management ist zu stark auf die nächsten Quartalszahlen fokussiert. Um die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens in 10 oder 20 Jahren geht es zu selten. Wo sind die Haudegen vom Schlage eines Carl Borgwards, der seiner Zeit mit wunderschönen Autos und Elektro-LKWs (60er Jahre!) weit voraus war, wo sind die sympathischen Visionäre und Macher vom Schlage eines Heinz Nixdorfs?
Natürlich können auch solche Personen mit ihren Ideen scheitern - das gehört aber dazu und ist nicht schlimm, sondern sogar notwendig. Es ist Teil des Such- und Entdeckungsprozesses des Marktes, der bei uns inzwischen komplett gestört ist. Wir wollen Bewahren und Verwalten, wo mutiges Ausprobieren und visionäres Agieren angesagt wären.
Es gibt auch kaum noch Manager, die sich öffentlich mit der Regierung anlegen und auf offensichtliche Fehlentwicklungen hinweisen. Leisetreterei bestimmt das Geschäft - lieber fliegt man ab und zu mit dem Regierungsflieger in der Entourage des Kanzlers oder der Kanzlerin nach Peking, statt auf den Putz zu hauen, wenn es angesagt wäre.
Die fehlende Bereitschaft, klare Positionen zu beziehen, Ecken und Kanten zu zeigen und damit Führungsverantwortung zu übernehmen, setzt sich bei den Eliten im staatlichen Kontext fort. So sind Generäle der Bundeswehr still und loyal bis zur Selbstverleugnung. Gleiches gilt für leitende Beamte bei BND und MAD.
Das Land hat aber nichts davon, wenn zentrale Aufgaben der inneren und äußeren Sicherheit aufgrund von (politisch gewollter?) Dysfunktionalität gar nicht mehr erfüllt werden können, und aus falsch verstandener Loyalität keiner Alarm schlägt. Ich finde das beängstigend, auch hier fehlen Leute mit E****, sorry.
Auch die Wissenschaft trägt eine Schuld: Zu oft hat man den Eindruck, dass Gremien, die der Politikberatung dienen, in vorauseilendem Gehorsam genau die Gutachten liefern, die die Politik sehen will! Wo sind hart geführte Auseinandersetzungen? Wo sind stark divergierende Positionen? Wo sind bahnbrechende, augenöffnende, neue, unkonventionelle Lösungen jenseits des politischen Mainstreams?
Überall Konsens und Mittelmaß. Groß und mutig zu denken und auch scheinbar Unmögliches möglich machen zu wollen: Fehlanzeige!
Fortsetzung folgt.
Foto: Deutschland früher und heute.
Autor:
Dr. Christian Jasperneite
Chief Investment Officer at M.M.Warburg & CO
__________________
Trading is both, the easiest thing to do and also the most demanding thing you've ever done in your entire life. It can ruin your life, your family, and everything you touch if you don't respect it, or it can change your life, your families, and give you a feeling that is hard to find elsewhere if you succeed.