Von 1886 bis 1910 - Als die Autos laufen lernten
Sie sahen aus wie Kutschen, hatten weder Dach noch Scheinwerfer und galten als Spielzeuge der Reichen. Trotzdem ging mit den ersten Automobilen ein Menschheitstraum in Erfüllung – sich frei über große Distanzen zu bewegen.
Das 19. Jahrhundert ist schon so sehr Geschichte, dass man sich seine Geschichten nicht mehr von Zeitgenossen erzählen lassen kann. Dabei prägen bis heute viele Dinge unser Leben, die damals neu aufkommen. So charakterisieren die Leser der „Berliner Illustrirte Zeitung“ bei einer Umfrage zum Jahresende 1899 das verflossene als „Jahrhundert der Erfindungen“. Die wichtigste Errungenschaft ist in den Augen der über 6.000 Teilnehmer die Eisenbahn. Als weitere Segnungen werden Ansichtskarte und Gummischuhe genannt, auch die Nähmaschine und die Petroleumlampe stehen in ihrer Gunst weit oben. Und das Automobil? Fehlanzeige. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie teuer, selten und unvollkommen die ersten motorisierten Fahrzeuge noch sind.
Bertha Benz startet 1888 zur abenteuerlichen Testfahrt
1900, 14 Jahre nachdem Carl Benz das Patent für seinen „Wagen mit Gasantrieb“ erhält, werden im Deutschen Reich gerade mal etwa 800 Automobile in aufwendiger Handarbeit hergestellt. Auch angesichts des fehlenden Straßen-, Tankstellen- und Werkstattnetzes kann man sich vorstellen, dass in weiten Landstrichen bis dato noch nie eins aufgetaucht ist. Entsprechend gerät die erste „Langstreckenfahrt“ von Bertha Benz im August 1888 mit dem Einzylinder-Dreirad ihres Mannes – ohne dessen Wissen – zu einem echten Abenteuer. Da der nur 0,75 PS starke Motor zwar bis zu 15 Kilometer pro Stunde schafft, aber an Steigungen schwächelt, wird eine relativ ebene Route von Mannheim nach Pforzheim ausgesucht. Trotzdem muss die resolute Frau unterwegs mehrmals anhalten und ihre beiden Söhne schieben lassen.
Genauso mühselig gestaltet sich die Suche nach Kühlwasser und dem aus Erdöl gewonnenen Treibstoff Ligroin – damals als Fleckentferner üblich. Selbst von den Vorzügen des Kraftwagens lassen sich die störrischen Zeitgenossen nicht so leicht erwärmen. Ein Pferd will immer bewegt, gepflegt und gefüttert werden, bei Nichtgebrauch droht es gar zu erkranken. Ein Auto benötigt dagegen nur dann Nahrung, wenn es genutzt wird. Dennoch verkauft Benz in sechs Jahren gerade mal 25 seiner ständig verfeinerten Modelle und resümiert bitter: „Mein erster Kunde war ein Verrückter, und ich musste den Kauf rückgängig machen. Mein zweiter war ein Todeskandidat: Er wollte noch etwas erleben, verstarb aber schon, bevor der Wagen geliefert werden konnte.“
1886 präsentiert Gottlieb Daimler seine Motorkutsche mit Einzylindermotor
Von Anfang an hat Benz das Auto als eigenständiges Ganzes im Sinn, während es dem großen Rivalen Gottlieb Daimler zunächst nur um die Durchsetzung seiner neuen Motoren-Konstruktion geht. Seine Motorkutsche von 1886 wird zwar mit Preisangabe präsentiert, bleibt aber ein Einzelstück. Immerhin trägt sie zur Bekanntheit und Verbreitung des schnelllaufenden Einzylinders bei, der Werkzeuge, Boote und Feuerwehrspritzen ebenso antreibt wie ein Flugzeug oder ein Luftschiff. Auch andere Autohersteller bauen das leichte, zuverlässige Triebwerk ein oder erwerben gleich die Lizenz.
Einen ganz erheblichen Teil der Produktion kann Daimler damals nach Frankreich verkaufen, wo man weit enthusiastischer auf das Automobil reagiert und viel zu seiner Weiterentwicklung beiträgt. Franzosen verbessern sehr früh alle entscheidenden Teile des Fahrgestells, platzieren den Motor erstmals vorn und erfinden die Kardanwelle als Ersatz für die anfangs üblichen, aber defektanfälligen Treibriemen und Ketten.
Französische Modelle werden zum Vorbild
Auch das erste internationale Rennen (Paris–Rouen 1894) und die erste Automobil-Ausstellung (Paris 1899) finden in Frankreich statt. Dort gibt man zunächst dem Dampfantrieb den Vorzug, schon 1883 zieht der duellfreudige Graf Albert de Dion mit dem Mechaniker Georges Bouton eine Produktion von Dampfkutschen auf. Doch als Gottlieb Daimler auf der Pariser Weltausstellung 1889 seinen relativ hochtourigen V-Zweizylinder präsentiert, schwenken die meisten Firmen auf Benzinmotoren um.
Neben Panhard & Levassor beginnt auch der Fahrradund Nähmaschinen-Fabrikant Armand Peugeot, der Damen schicklich ohne Strampeln befördern will, 1891 mit der Produktion von Autos mit Verbrennungsmotor. Dank ihrer Raffinesse werden französische Modelle zum Baumuster für neue Hersteller weltweit.
Wilhelm Maybach entwickelt sportlichen Zweisitzer
Überall außer in England, wo einem Kraftwagen bis 1896 stets ein Mann mit einer roten Fahne vorangehen muss und maximal 19 km/h erlaubt sind, werden wilde Straßenrennen zur Landplage und lehren die Autos laufen. Bei Daimler in Cannstatt taucht aus Nizza der flotte Österreicher Emil Jellinek auf, um für sich und seine Freunde aus der superreichen Riviera-Crème ein passendes Sportgefährt bauen zu lassen: niedrig, leistungsstark, schnell – das Gegenteil einer Motorkutsche eben.
Er nervt den Chefkonstrukteur Wilhelm Maybach mit immer neuen Verbesserungswünschen, selbst als der schnittige, leichte Zweisitzer im März 1901 bei der Rennwoche in Nizza unter dem Namen von Jellineks Lieblingstochter die Konkurrenz in Grund und Boden fährt.
Kaiser Wilhelm schwenkt um auf „Stinkkarren“
Nach 5,9 Liter Hubraum, 35 PS und 86,5 km/h Spitze bringt es der weiterentwickelte, bemerkenswert fortschrittliche Vierzylinder-Wagen im nächsten Jahr bereits auf 6,5 Liter, 40 PS und 110 km/h, und die französische Presse feiert seinen Schöpfer als „König der Konstrukteure“. Von nun an tragen alle Daimler-Wagen den siegreichen Namen Mercedes. In relativ kurzer Zeit wird das Auto gesellschafts- und hoffähig, sogar der anfangs skeptische deutsche Kaiser Wilhelm II. („Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung“) wandelt sich zum Anhänger der „Stinkkarren“.
Die fortschreitende Technik sorgt dafür, dass Qualm und sonstige Unbequemlichkeiten stark gemindert werden, und die Kutschenbauer von einst entwickeln nach dem Wunsch ihrer Kunden Karosserien für elegante Limousinen, offene Tourer oder flotte Sportwagen, die schon den Geschwindigkeitsrausch jenseits der 100 km/h ermöglichen – eine gut ausgebaute Piste natürlich vorausgesetzt. Obwohl es noch für lange Zeit ein Spielzeug der Reichen bleibt, nimmt das Automobil bereits Anfang des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Platz im Alltag der Menschen ein.
Ab 1906 kassiert der Staat die Kfz-Steuer
Lastwagen lösen die Pferdefuhrwerke ab, Kraftdroschken kommen auf, und der Herr Doktor macht seinen Hausbesuch so selbstverständlich im Auto, wie er noch vor fünf Jahren im Einspänner vorfuhr. Mit nachhaltigen wirtschaftlichen Folgen: Von 1901 bis 1909 steigt die Zahl deutscher Autohersteller von zwölf auf 54, und in ihren Werken sind statt 1773 nunmehr zehn Mal so viele Arbeiter und Angestellte beschäftigt (17.748). Ab 1906 kassiert der Staat eine Kraftfahrzeugsteuer – nicht zum Ausbau des Straßennetzes, sondern zur Finanzierung der Flottenpläne des Kaisers.
In diesen Jahren gewinnt das Auto zugleich seine eigene Gestalt, ist mit einer Kutsche, der man die Pferde ausgespannt hat, nicht mehr zu verwechseln. Die Verbesserungen folgen Schlag auf Schlag: Robert Bosch erfindet die Magnetzündung, F. W. Lanchester das Zweigang-Planetengetriebe, und die Gebrüder Michelin machen den von John Boyd Dunlop ersonnenen Luftreifen für Autos serienreif. Ebenso löst der im Fahrtwind stehende Wabenkühler die Schlangenrohr- und Verdampfungskühlung ab, gesteuert wird mit einem Lenkrad statt Hebel oder Kurbel, und manche Bremsen sollen sogar „sofortiges Anhalten“ ermöglichen.
Charles Glidden startet 1901 zur Weltreise im Napier
Mit der wachsenden Nachfrage werden auch in anderen Ländern findige Tüftler und Unternehmer aktiv. Frederick und George Lanchester, die englischen Gegenstücke zu Benz und Daimler, stellen 1895 das erste echte Automobil Großbritanniens mit einem luftgekühlten Zweizylindermotor her. Ein weiterer Pionier ist die Firma Napier, die sich nicht zuletzt durch die Weltreise von Charles Glidden einen Namen macht: Von 1901 bis 1908 legt er mit vier Autos des gleichen Typs 72.000 Kilometer durch 40 Länder zurück.
Der Napier Six von 1904 mit seinem Fünfliter-Reihensechszylinder behauptet sich sogar lange als gleichwertige Alternative zum legendär laufruhigen Society-Liebling Rolls-Royce Silver Ghost. In Italien leistet neben Lancia (1906) und
Alfa Romeo (1909) vor allem Fiat (1899) einen Beitrag zur Motorisierung, aber auch die USA liegen gegenüber Europa nie weit zurück. Der gasgetriebene Buggy der Brüder Duryea von 1892 gilt als Geburtsstunde der amerikanischen Autoindustrie, und schon 1901 beginnt Ransom E. Olds, mit dem „Curved Dash“ erstmals ein Auto in Serie zu fertigen.
In den USA entsteht General Motors – Ford Model T startet Siegeszug
Aus dem Zusammenschluss von Oldsmobile, Buick, Cadillac, Oakland (Pontiac) und später Chevrolet entsteht ab 1908 der größte Autohersteller der Welt (General Motors), und im gleichen Jahr stellt Henry
Ford sein unsterbliches Model T vor. Der einfache, robuste und preiswerte Wagen wird rund um den Globus so erfolgreich, dass Ford sich genötigt sieht, die erste Fließbandproduktion der Welt aufzuziehen. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
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