hier einmal ein "Live-Bericht" COVOD-19 vom Mitentdecker des Ebola-Virus - Prof. Piot, ihn hatte es selbst erwischt.
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„Ich hatte den Tod vor Augen!“ Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte – und wovor er warnt - Medscape - 19. Mai 2020.
Ich hatte den Tod vor Augen!“ Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte – und wovor er warnt
Dirk Draulans
19. Mai 2020
Ärzte kennen Prof. Dr. Dr. Peter Piot vor allem als Mit-Entdecker des Ebolavirus in Zaire im Jahr 1976 und als Initiator früher HIV/AIDS-Hilfsprogramme in den 1980er-Jahren. Der Forscher lebt in England und ist Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Vita-Kasten siehe letzte Seite). Der belgische Virologe erkrankte vor einigen Wochen an COVID-19. Im Gespräch mit der belgischen Zeitschrift Knack berichtet er über seine Erfahrungen – und über Lehren, die man aus der Pandemie ziehen sollte [1].
Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Quelle: Wikipedia
Peter Piot sieht während des Videoanrufs, den der Reporter (am 2. Mai) mit ihm geführt hat, müde aus. Es ist sein erstes Interview, seit er sich Mitte März mit dem Coronavirus infiziert hat. Als er in seinem Haus in London nach oben gehen muss, um ein Buch zu holen, kommt er außer Atem zurück. Er hustet oft. Aber das Virus hat seine Motivation nicht geschwächt.
Eineinhalb Stunden lang erzählt er – zunächst zögernd, weil es eine emotionale Erfahrung war und er kein emotionaler Mensch ist, wie er sagt. Er berichtet, wie ihn die Krankheit beeinflusst hat und äußert seine Sorge darüber, dass viele Menschen die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Gesellschaft unterschätzen. Hier ist sein Bericht:
Plötzlich einsetzender Krankheitsbeginn
Am 19. März hatte ich plötzlich hohes Fieber und stechende Kopfschmerzen. Es war bizarr, dass sich mein Schädel und meine Haare sehr schmerzhaft anfühlten. Ich musste noch nicht husten, aber mein erster Reflex war: Ich hatte keine Lust auf Schmerzen. Ich habe weitergearbeitet, weil ich ein Workaholic bin, allerdings von zu Hause aus. Letztes Jahr haben wir uns an der London School of Hygiene and Tropical Medicine sehr um Telearbeit bemüht, so dass wir nicht so viel reisen mussten. Diese Investition in den Kampf gegen die globale Erwärmung ist jetzt natürlich sehr nützlich.
Da es unmöglich war, sich vom National Health Service testen zu lassen, ließ ich mich in einem privaten Krankenhaus untersuchen. Wie ich vermutet hatte, fiel der COVID-19-Test positiv aus. Man hofft dann nur, dass es schnell vorbeigeht.
Ich habe mich zu Hause im Gästezimmer in Isolation begeben. Das Fieber blieb bestehen. Ich war noch nie ernsthaft krank und hatte in den letzten 10 Jahren keinen einzigen Tag in der Arbeit gefehlt. Ich lebe recht gesund und gehe regelmäßig zu Fuß. Der einzige Risikofaktor für die Corona ist mein Alter, ich bin 71 Jahre alt. Aber ich bin Optimist, also dachte ich, es würde schnell vorübergehen. Aber am 1. April riet mir ein befreundeter Arzt zu einer gründlichen Untersuchung, weil das Fieber und vor allem die Erschöpfung immer schlimmer wurden.
Schwere Lungenentzündung und Sauerstoffmangel
Man diagnostizierte einen schweren Sauerstoffmangel, obwohl ich immer noch nicht kurzatmig war. Bilder meiner Lungen zeigten eine schwere Lungenentzündung – typisch für COVID-19. Ich fühlte mich ständig erschöpft, obwohl ich jemand bin, der ansonsten vor Energie strotzt. Ich war nicht nur müde, ich war total erschöpft. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.
Ich wurde also ins Krankenhaus gebracht, obwohl ich in der Zwischenzeit negativ auf das Virus getestet worden war. Auch das ist typisch für COVID-19: Das Virus verschwindet, aber seine Auswirkungen halten wochenlang an.
Meine Sorge war, dass sie mich im Krankenhaus sofort an ein Beatmungsgerät hängen würden. Ich hatte Publikationen gesehen, die zeigten, dass sich das Risiko, zu sterben, dadurch erhöht. Zum Glück bekam ich nur eine Sauerstoffmaske, und es stellte sich heraus, dass sie mir etwas brachte und meinen Zustand stabilisierte.
So landete ich in einem Isolationsraum der Intensivstation. Ich war die ganze Zeit sehr müde. Man kapituliert völlig vor den Krankenschwestern, lebt in einer Routine von der nächsten Spritze bis zur nächsten Infusion und hofft, es zu schaffen. Normalerweise bin ich recht proaktiv, aber hier war ich ein 100-prozentiger Patient.
Keine COVID-19-Patienten in Großbritanniens privaten Kliniken
Mir ist aufgefallen, dass das öffentliche Gesundheitssystem in England niemanden diskriminiert. Ich habe eine spezielle Versicherung für Krankenhausaufenthalte, aber die teuren Privatkliniken in England wollen keine COVID-19-Patienten behandeln. Ärzte schicken sie unverzüglich in staatliche Einrichtungen. Das Gesundheitssystem zahlt alle Kosten für Pflege und Medikamente, für alle – das ist ziemlich beeindruckend.
Es waren einsame Tage und Nächte, denn niemand hatte den Mut zu reden. Ich konnte wochenlang nur flüstern, selbst jetzt verliert meine Stimme noch ihre Kraft. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Ich lag in meinem Zimmer zusammen mit einem Obdachlosen, einer kolumbianischen Putzfrau und einem Mann aus Bangladesch – übrigens alle 3 Diabetespatienten, was mit dem bekannten Bild der Krankheit übereinstimmt. Es waren einsame Tage und Nächte, denn niemand hatte den Mut zu reden. Ich konnte wochenlang nur flüstern, selbst jetzt verliert meine Stimme noch ihre Kraft. Aber immer war die Frage in meinem Kopf: Wie komme ich da wieder heraus?
Nach mehr als 40 Jahren im Kampf gegen Viren auf der ganzen Welt bin ich zu einem Experten für Infektionen geworden. Ich bin froh, dass es Corona und nicht Ebola war, obwohl ich gestern eine wissenschaftliche Studie gelesen habe, die zu dem Schluss kam, dass man eine 30-prozentige Chance hat, zu sterben, wenn man mit COVID-19 in einem britischen Krankenhaus landet. Das ist ungefähr die gleiche Sterblichkeit, die 2014 in Westafrika durch Ebola verursacht wurde.
Da verliert man schon mal die wissenschaftliche Nüchternheit und gibt sich sehr emotionalen Gedanken hin. Jetzt haben die Viren mich erwischt, dachte ich manchmal. Ich habe mein Leben dem Kampf gegen Viren gewidmet, und endlich können sie sich rächen. Eine Woche lang balancierte ich zwischen Himmel und Erde, am Rande dessen, was das Ende hätte bedeuten können.
Ich habe zu Hause lange geweint. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Nachdem ich nach einer langen Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden war, fuhr ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause. Ich wollte die Stadt sehen, mit ihren leeren Straßen, geschlossenen Kneipen und mit ihrer überraschend frischer Luft. Es war niemand auf der Straße – eine seltsame Erfahrung.
Die folgenden Tage konnte ich die Wohnung nicht verlassen, weil meine Muskeln durch das Liegen und den Bewegungsmangel geschwächt waren, was grundsätzlich nicht gut für die Behandlung einer Lungenkrankheit ist. Aber dieses Virus ist so speziell, dass man keine Alternative hat. Ich habe zu Hause lange geweint. Ich habe auch eine Weile schlecht geschlafen, denn das Risiko, dass etwas ernsthaft falsch läuft, spukt einem immer noch im Kopf herum.
Man ist zu Hause eingesperrt. Ich bewundere Nelson Mandela heute noch mehr als früher. Dieser Mann war 27 Jahre lang in einem Gefängnis, kam aber als großer Politiker und Schlichter daraus hervor.
Rückblicke auf Ebola und auf HIV/AIDA
Ich hatte schon immer großen Respekt vor Viren. Das hat sich auch jetzt nicht geändert. Einen großen Teil meines Lebens habe ich dem Kampf gegen das AIDS-Virus gewidmet. Es entzieht sich uns, wenn wir versuchen, es zu kontrollieren. Die ersten Anzeichen für AIDS tauchten Anfang der 1980er-Jahre auf, aber heute haben wir immer noch keinen Impfstoff dagegen, und es gibt keine Heilung. Wir können nur die Symptome der Krankheit unterdrücken, aber wir werden das Virus nicht los.
Jedes Jahr infizieren sich weltweit immer noch etwa 1,6 Millionen Menschen. Aber jetzt, da ich selbst die Präsenz eines gefährlichen Virus in meinem Körper gespürt habe, habe ich einen andere Perspektive. SARS-CoV-2 wird mein Leben verändern, das ist mir klar. Man fühlt sich verletzlicher.
SARS-CoV-2 wird mein Leben verändern, das ist mir klar. Man fühlt sich verletzlicher. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Im Jahr 1976 gehörte ich zu dem Team, das die allererste Ebola-Krise in der kongolesischen Stadt Yambuku untersuchte. Damals war ich 27 Jahre jung und abenteuerlustig. Es ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe. Wir erhielten Blutproben von Patienten in Thermosflaschen, und ich nahm Blut von Patienten ohne Mundmaske oder Schutzkleidung ab.
Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass das Wichtigste im Leben die Abwesenheit von Widrigkeiten ist. Während dieser Reise habe ich mich einmal geweigert, an Bord eines Hubschraubers zu gehen, weil der Pilot betrunken war und es ein Gewitter gab. Er stürzte während des Fluges ab. Niemand überlebte, auch nicht der Mann, der froh war, meinen Platz einzunehmen. Über Ebola bin ich allerdings nicht so besorgt. Es ist ein tödliches Virus, aber es ist nicht an Menschen angepasst.
Der Zytokinsturm sorgt für Atemnot
Eine Woche nach meiner Entlassung aus der stationären Behandlung wurde ich immer kurzatmiger. Ich musste zurück ins Krankenhaus, aber glücklicherweise konnte ich mich ambulant behandeln lassen. Ich schien an einer neuen Lungenkrankheit zu leiden, die durch einen so genannten Zytokin-Sturm verursacht wurde. Das ist eine Folge davon, dass das Immunsystem einige Gänge schneller schaltet.
Viele Menschen sterben nicht an den durch das Virus verursachten Gewebeschäden, sondern an den übertriebenen Reaktionen ihres Immunsystems, das nicht weiß, was es damit anfangen soll. Gegen diese Symptome muss ich immer noch behandelt werden, mit hoch dosierten Kortikosteroiden, um das Immunsystem zu bremsen. Wenn ich diesen Zytokin-Sturm zusammen mit den Symptomen des Virenausbruchs in meinem Körper bekommen hätte, hätte ich nicht überlebt.
Meine Herzfrequenz ist auf 170 Schläge pro Minute gestiegen – auch das musste medikamentös behandelt werden. Es handelt sich um einen unterschätzten Faktor des Virus: Er kann wahrscheinlich alle Organe unseres Körpers befallen.
Mehr als eine harmlose Grippe
Viele Menschen denken, COVID-19 sei eine Erkrankung ist, die 1 Prozent aller Patienten töte, während der Rest mit grippeähnlichen Symptomen davonkomme. Aber die Geschichte ist komplizierter. Viele Menschen werden nach einer Infektion chronische Probleme mit ihren Nieren und ihrem Herz entwickeln. Sogar ihre Nerven können in Mitleidenschaft gezogen werden.
Ohne einen Corona-Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Es wird Hunderttausende von Patienten weltweit geben, möglicherweise noch mehr, die für den Rest ihres Lebens behandelt werden müssen. Je mehr wir über das Coronavirus erfahren, desto mehr Fragen stellen sich. Das Virus ist für jeden neu. Deshalb bekomme ich schlechte Laune von Menschen, die Wissenschaftler und Politiker kritisieren, die hart daran arbeiten, das Virus unter Kontrolle zu bringen. Das ist sehr unfair.
Angangs eine unterschätzte Bedrohung
Ich bin mit dem Leiter des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention gut befreundet. So konnte ich die Entwicklungen in der Corona-Krise von Anfang an, ab Januar, genau verfolgen. Ursprünglich dachten wir, es handele sich um eine neue Version des SARS-Virus, das 2003 in China auftrat, aber nur relativ geringe Auswirkungen hatte.
Wenn sich viele Menschen nicht impfen lassen, werden wir die Pandemie nie unter Kontrolle bekommen. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Ende Januar wurden auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos die Pandemie-Sitzungen abgesagt, weil niemand sie für notwendig hielt. Aber wir wussten, dass wir ein großes Problem haben würden, wenn das Virus weltweit ausbrechen würde. Und es wurde global. SARS manifestiert sich tief in der Lunge, während das neuartige Coronavirus auch die oberen Atemwege befällt, wodurch es sich leichter verbreiten kann. Ich bin überzeugt, dass die durch das Virus verursachte Sterblichkeitsrate stark unterschätzt worden ist.
Der nächste Schritt: Suche nach Impfstoffen und Therapeutika
Heute (2. Mai, Anm. d. Übers.) fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mehr oder minder in Form. Ich habe weißen Spargel gegessen, den ich bei einem türkischen Gemüsehändler um die Ecke bestellen konnte. Ich komme aus Keerbergen, einer Spargelgemeinde.
Die Bilder meiner Lunge sehen endlich besser aus. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine gute Flasche Wein geöffnet. Ich möchte wieder an die Arbeit gehen, auch wenn meine Kraft für eine Weile eingeschränkt sein wird. Das erste, was ich wieder aufgreife, ist meine Arbeit als Corona-Berater der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen.Die Kommission wird sich intensiv um die Entwicklung eines Impfstoffs bemühen. Um es klar zu sagen: Ohne einen Corona-Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können. Die einzige wirkliche Ausstiegsstrategie aus dieser Krise ist ein Impfstoff, der weltweit eingeführt werden kann. Dazu gehört nicht nur die Entwicklung des Impfstoffs, sondern auch die Herstellung von Milliarden von Dosen und Ampullen, was allein schon für die Logistik eine große Herausforderung darstellt. Trotz der unternommenen Anstrengungen wissen wir noch nicht, ob es möglich sein wird, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Im schlimmsten Fall werden wir nur versuchen können, den Schaden durch das Virus zu begrenzen.
Bei der Arzneimittel-Entwicklung müssen wir vorerst bescheiden bleiben. Ein Vergleich: Nach vielen Jahren intensiver Forschung haben wir immer noch kein Heilmittel gegen Grippe. Man kann ein wenig in die Symptome eingreifen und die Krankheit verkürzen, aber das ist keine wirkliche Behandlung. Es besteht die Aussicht auf eine frühe Behandlung für COVID-19. Aber wenn die Krankheit zu weit fortgeschritten ist, werden Medikamente nicht mehr helfen.
Folgen für die Gesellschaft
Wir werden gründlich darüber nachdenken müssen, welche Maßnahmen wir ansetzen müssen, welches Gleichgewicht zwischen öffentlicher Gesundheit und Wirtschaft sinnvoll ist. Wir müssen uns jedoch davor hüten, in Eugenik-Debatten zu verfallen.
Hier in England fordern einige Behörden bereits einen Stopp aller medizinischen Behandlungen für Menschen über 70 Jahre. Dann ist es nicht mehr nur ein Virus, welches die Schwächsten unserer Gesellschaft auf grausame Weise zu Opfern macht. Ich bestehe darauf, dass jedes Menschenleben unter allen Umständen wichtig ist.
Übrigens weiß ich nicht, ob ich jetzt gegen das Virus immun bin, nachdem ich so krank war. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Es wird derzeit viel über die Rückverfolgung von Kontakten gesprochen, um das Virus unter Kontrolle zu halten. Ich habe mich sicherlich in England infiziert, nicht an einem exotischen Ort. Aber ich hatte in der Woche vor meiner Infektion mit mindestens 150 Menschen Kontakt. Das ist eine Menge.
Übrigens weiß ich nicht, ob ich jetzt gegen das Virus immun bin, nachdem ich so krank war. Denn selbst elementare Informationen über die Resistenzbildung sind immer noch nicht vorhanden.
Haben wir die drohende Gefahr ignoriert?
Seit 2014 habe ich des öfteren einen Vortrag über die Frage gehalten: „Sind wir bereit für die nächste Pandemie?“ Wir waren sicher, dass wir gewappnet sind. Und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich um ein Atemwegsvirus handeln würde. Vergleichbar mit der Gefahr, die dauerhaft über Kalifornien schwebt: ein riesiges Erdbeben, welches das Silicon Valley von der Landkarte tilgen könnte. Die Frage lautet in beiden Fällen nicht, ob es passieren wird, sondern wann – nächste Woche oder in 100 Jahren? Die Frage ist auch, wie man die Welt auf eine Pandemie vorbereiten kann, ohne den Zeitpunkt zu kennen.
Man erkennt, dass große Ziele, die nach SARS oder nach dem Ausbruch der Schweinegrippe 2009 formuliert worden waren, stillschweigend in bürokratischen Schubladen gelandet sind, sobald die Krise von den Titelseiten verschwunden war. Als ob man die Feuerwehr abschafft, sobald ein Haus gelöscht worden ist, und erst beim nächsten Brand wieder neu gründet. Auf diese Weise geht wichtige Zeit verloren, wenn die Krise dann auftritt. Der Titel meines Buches über die Viruskrisen ab 2012 lautet deshalb auch „No Time to Lose: A Life In Pursuit Of Deadly Viruses“.
Wir wissen nicht, was uns im Falle einer neuen Pandemie erwartet. Es sind reale Horrorszenarien möglich, wie zum Beispiel eine Kombination der Infektiosität des Corona- und der Sterblichkeit des Marburg-Virus. Letzteres tötet 90 Prozent aller Infizierten.
Auch für Viren werden die Umstände besser. Es gibt mehr Menschen als früher, wir leben enger zusammen und wir reisen mehr: viele Faktoren, die eine Übertragung der Viren von Tieren auf Menschen fördern. Die Chancen, dass ein ansteckender Virusausbruch heute auf eine Provinz in China beschränkt bleibt, gehen praktisch gegen null.
Ein ständiger Wettlauf zwischen Mensch und Mikrobe
Auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion stellt ein Risiko dar. Manchmal ist es gut, skeptisch gegenüber der Bürokratie zu sein, die im Bereich der Lebensmittelhygiene und -kontrolle entstanden ist. Aber sie hat unser Leben sicherer gemacht. Die Tatsache, dass Milch jetzt pasteurisiert wird, hat die Übertragung von Tuberkulose von der Kuh auf den Menschen praktisch ausgerottet. Der berühmte französische Mikrobiologie-Pionier Louis Pasteur sagte einmal: „Mikroben werden immer das letzte Wort haben.“ Wir haben es irgendwie vergessen, denn Antibiotika und Impfstoffe haben im letzten halben Jahrhundert so viele Leben gerettet.
Als Kind hatte ich Masern und Keuchhusten, aber heute sind die meisten Kinder von diesem Elend verschont. Vielen Menschen ist nicht klar, dass wir unser langes Leben diesen wissenschaftlichen Durchbrüchen verdanken.
Aber wir leben in einem ständigen Wettlauf mit Mikroben. Viele Bakterien haben Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt, und wenn wir dieses Problem nicht lösen, drohen Katastrophen. Schwere Operationen und Krebsbehandlungen werden dann unmöglich.
Wir erleben jetzt auch das Paradoxon, dass Menschen, die ihr Leben Impfstoffen verdanken, nicht mehr wollen, dass ihre Kinder geimpft werden. Dies kann zu einem Problem werden, wenn wir einen Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt bringen wollen. Wenn sich viele Menschen nicht impfen lassen, werden wir die Pandemie nie unter Kontrolle bekommen.
Ich denke, das ist die Folge der „Zersplitterung“ in Einzelmeinungen, etwa durch Social Media. Das beobachte ich auch in der Politik. Schauen Sie sich den Brexit hier in England oder die föderale Regierungsbildung in Belgien an. Aber irgendwann müssen wir anfangen, aussagekräftige Antworten zu formulieren.
Daran gibt es keinen Zweifel: Die durch das Coronavirus verursachte wirtschaftliche Schockwelle wird größer sein als die nach der Finanzkrise 2008. Die Europäische Kommission betrachtet sie als die größte Krise unserer Zeit. Es wird schwerwiegende Folgen in Bezug auf Armut und Arbeitslosigkeit haben. Wir werden sie in unser Gesellschaftsmodell integrieren müssen..
Es ist vorhersehbar, dass selbst die langsame Freigabe der Maßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Zahl der Krankheitsfälle führen wird. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Die große Frage ist, ob noch in den Kampf gegen die globale Erwärmung investiert werden kann, die sich deutlich beschleunigt. Man könnte auch argumentieren, dass mehr Menschen an Krebs oder an den Folgen des Rauchens sterben. Aber zu wenige Menschen erkennen, wie zerstörend dieses Virus für unsere Gesellschaft ist.
Wie werden Menschen auf eine Maßnahme reagieren?
Unsere zunehmende Individualisierung kollidiert mit den fast mittelalterlich anmutenden Quarantänemaßnahmen, die wir jetzt ergreifen, um das Virus einzudämmen. Wir können einerseits so nicht weitermachen – man spürt schon, wie die Geduld vieler Menschen nachlässt. Aber es ist vorhersehbar, dass selbst die langsame Freigabe der Maßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Zahl der Krankheitsfälle führen wird, was erneut Kritik auslösen wird.
In meinem Institut arbeiten 30 brillante Mathematiker an Modellen, wie sich eine Viruserkrankung entwickelt. Es gibt jedoch immer ein entscheidendes Element, das sich ihrer Kontrolle entzieht: Wie werden die Menschen auf eine Maßnahme reagieren? Das ist natürlich von Ort zu Ort unterschiedlich. Was in Singapur möglich ist, ist bei uns vielleicht nicht möglich.
Ich hoffe, dass die Krise die politischen Spannungen in einer Reihe von Bereichen mildern wird. Es mag eine Illusion sein, aber wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Kampagnen für Polio-Impfungen hier und da zum Waffenstillstand geführt haben.
Ebenso hoffe ich, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die eine hervorragende Arbeit im Kampf gegen COVID-19 leistet, reformiert werden kann, um sie weniger bürokratisch und weniger abhängig von den beratenden Ausschüssen zu machen, in denen die einzelnen Länder hauptsächlich ihre eigenen Interessen vertreten. Infolgedessen wird die WHO allzu oft zu einem politischen Spielball.
Wie dem auch sei: Ich bleibe ein Optimist. Und jetzt, da ich den Tod vor Augen gesehen habe, ist meine Toleranzbereitschaft gegenüber Unsinn und Bullshit noch gesunken. Ich werde also weitermachen, ruhig und enthusiastisch, wenn auch selektiver als vor meiner Krankheit.
In England muss man nicht – wie etwa in Belgien – mit 65 Jahren in Rente gehen. Ich betrachte die Zwangsversetzung in den Ruhestand als eine Verletzung der Menschenrechte und als Diskriminierung aufgrund des Alters. Aber mit einem Buch an einem Strand zu liegen, ist sowieso nichts für mich.
Der Artikel wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert.
Über Prof. Dr. Dr. Peter Piot
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„Ich hatte den Tod vor Augen!“ Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte – und wovor er warnt - Medscape - 19. Mai 2020.
Ich hatte den Tod vor Augen!“ Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte – und wovor er warnt
Dirk Draulans
19. Mai 2020
Ärzte kennen Prof. Dr. Dr. Peter Piot vor allem als Mit-Entdecker des Ebolavirus in Zaire im Jahr 1976 und als Initiator früher HIV/AIDS-Hilfsprogramme in den 1980er-Jahren. Der Forscher lebt in England und ist Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Vita-Kasten siehe letzte Seite). Der belgische Virologe erkrankte vor einigen Wochen an COVID-19. Im Gespräch mit der belgischen Zeitschrift Knack berichtet er über seine Erfahrungen – und über Lehren, die man aus der Pandemie ziehen sollte [1].
Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Quelle: Wikipedia
Peter Piot sieht während des Videoanrufs, den der Reporter (am 2. Mai) mit ihm geführt hat, müde aus. Es ist sein erstes Interview, seit er sich Mitte März mit dem Coronavirus infiziert hat. Als er in seinem Haus in London nach oben gehen muss, um ein Buch zu holen, kommt er außer Atem zurück. Er hustet oft. Aber das Virus hat seine Motivation nicht geschwächt.
Eineinhalb Stunden lang erzählt er – zunächst zögernd, weil es eine emotionale Erfahrung war und er kein emotionaler Mensch ist, wie er sagt. Er berichtet, wie ihn die Krankheit beeinflusst hat und äußert seine Sorge darüber, dass viele Menschen die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Gesellschaft unterschätzen. Hier ist sein Bericht:
Plötzlich einsetzender Krankheitsbeginn
Am 19. März hatte ich plötzlich hohes Fieber und stechende Kopfschmerzen. Es war bizarr, dass sich mein Schädel und meine Haare sehr schmerzhaft anfühlten. Ich musste noch nicht husten, aber mein erster Reflex war: Ich hatte keine Lust auf Schmerzen. Ich habe weitergearbeitet, weil ich ein Workaholic bin, allerdings von zu Hause aus. Letztes Jahr haben wir uns an der London School of Hygiene and Tropical Medicine sehr um Telearbeit bemüht, so dass wir nicht so viel reisen mussten. Diese Investition in den Kampf gegen die globale Erwärmung ist jetzt natürlich sehr nützlich.
Da es unmöglich war, sich vom National Health Service testen zu lassen, ließ ich mich in einem privaten Krankenhaus untersuchen. Wie ich vermutet hatte, fiel der COVID-19-Test positiv aus. Man hofft dann nur, dass es schnell vorbeigeht.
Ich habe mich zu Hause im Gästezimmer in Isolation begeben. Das Fieber blieb bestehen. Ich war noch nie ernsthaft krank und hatte in den letzten 10 Jahren keinen einzigen Tag in der Arbeit gefehlt. Ich lebe recht gesund und gehe regelmäßig zu Fuß. Der einzige Risikofaktor für die Corona ist mein Alter, ich bin 71 Jahre alt. Aber ich bin Optimist, also dachte ich, es würde schnell vorübergehen. Aber am 1. April riet mir ein befreundeter Arzt zu einer gründlichen Untersuchung, weil das Fieber und vor allem die Erschöpfung immer schlimmer wurden.
Schwere Lungenentzündung und Sauerstoffmangel
Man diagnostizierte einen schweren Sauerstoffmangel, obwohl ich immer noch nicht kurzatmig war. Bilder meiner Lungen zeigten eine schwere Lungenentzündung – typisch für COVID-19. Ich fühlte mich ständig erschöpft, obwohl ich jemand bin, der ansonsten vor Energie strotzt. Ich war nicht nur müde, ich war total erschöpft. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.
Ich wurde also ins Krankenhaus gebracht, obwohl ich in der Zwischenzeit negativ auf das Virus getestet worden war. Auch das ist typisch für COVID-19: Das Virus verschwindet, aber seine Auswirkungen halten wochenlang an.
Meine Sorge war, dass sie mich im Krankenhaus sofort an ein Beatmungsgerät hängen würden. Ich hatte Publikationen gesehen, die zeigten, dass sich das Risiko, zu sterben, dadurch erhöht. Zum Glück bekam ich nur eine Sauerstoffmaske, und es stellte sich heraus, dass sie mir etwas brachte und meinen Zustand stabilisierte.
So landete ich in einem Isolationsraum der Intensivstation. Ich war die ganze Zeit sehr müde. Man kapituliert völlig vor den Krankenschwestern, lebt in einer Routine von der nächsten Spritze bis zur nächsten Infusion und hofft, es zu schaffen. Normalerweise bin ich recht proaktiv, aber hier war ich ein 100-prozentiger Patient.
Keine COVID-19-Patienten in Großbritanniens privaten Kliniken
Mir ist aufgefallen, dass das öffentliche Gesundheitssystem in England niemanden diskriminiert. Ich habe eine spezielle Versicherung für Krankenhausaufenthalte, aber die teuren Privatkliniken in England wollen keine COVID-19-Patienten behandeln. Ärzte schicken sie unverzüglich in staatliche Einrichtungen. Das Gesundheitssystem zahlt alle Kosten für Pflege und Medikamente, für alle – das ist ziemlich beeindruckend.
Es waren einsame Tage und Nächte, denn niemand hatte den Mut zu reden. Ich konnte wochenlang nur flüstern, selbst jetzt verliert meine Stimme noch ihre Kraft. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Ich lag in meinem Zimmer zusammen mit einem Obdachlosen, einer kolumbianischen Putzfrau und einem Mann aus Bangladesch – übrigens alle 3 Diabetespatienten, was mit dem bekannten Bild der Krankheit übereinstimmt. Es waren einsame Tage und Nächte, denn niemand hatte den Mut zu reden. Ich konnte wochenlang nur flüstern, selbst jetzt verliert meine Stimme noch ihre Kraft. Aber immer war die Frage in meinem Kopf: Wie komme ich da wieder heraus?
Nach mehr als 40 Jahren im Kampf gegen Viren auf der ganzen Welt bin ich zu einem Experten für Infektionen geworden. Ich bin froh, dass es Corona und nicht Ebola war, obwohl ich gestern eine wissenschaftliche Studie gelesen habe, die zu dem Schluss kam, dass man eine 30-prozentige Chance hat, zu sterben, wenn man mit COVID-19 in einem britischen Krankenhaus landet. Das ist ungefähr die gleiche Sterblichkeit, die 2014 in Westafrika durch Ebola verursacht wurde.
Da verliert man schon mal die wissenschaftliche Nüchternheit und gibt sich sehr emotionalen Gedanken hin. Jetzt haben die Viren mich erwischt, dachte ich manchmal. Ich habe mein Leben dem Kampf gegen Viren gewidmet, und endlich können sie sich rächen. Eine Woche lang balancierte ich zwischen Himmel und Erde, am Rande dessen, was das Ende hätte bedeuten können.
Ich habe zu Hause lange geweint. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Nachdem ich nach einer langen Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden war, fuhr ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause. Ich wollte die Stadt sehen, mit ihren leeren Straßen, geschlossenen Kneipen und mit ihrer überraschend frischer Luft. Es war niemand auf der Straße – eine seltsame Erfahrung.
Die folgenden Tage konnte ich die Wohnung nicht verlassen, weil meine Muskeln durch das Liegen und den Bewegungsmangel geschwächt waren, was grundsätzlich nicht gut für die Behandlung einer Lungenkrankheit ist. Aber dieses Virus ist so speziell, dass man keine Alternative hat. Ich habe zu Hause lange geweint. Ich habe auch eine Weile schlecht geschlafen, denn das Risiko, dass etwas ernsthaft falsch läuft, spukt einem immer noch im Kopf herum.
Man ist zu Hause eingesperrt. Ich bewundere Nelson Mandela heute noch mehr als früher. Dieser Mann war 27 Jahre lang in einem Gefängnis, kam aber als großer Politiker und Schlichter daraus hervor.
Rückblicke auf Ebola und auf HIV/AIDA
Ich hatte schon immer großen Respekt vor Viren. Das hat sich auch jetzt nicht geändert. Einen großen Teil meines Lebens habe ich dem Kampf gegen das AIDS-Virus gewidmet. Es entzieht sich uns, wenn wir versuchen, es zu kontrollieren. Die ersten Anzeichen für AIDS tauchten Anfang der 1980er-Jahre auf, aber heute haben wir immer noch keinen Impfstoff dagegen, und es gibt keine Heilung. Wir können nur die Symptome der Krankheit unterdrücken, aber wir werden das Virus nicht los.
Jedes Jahr infizieren sich weltweit immer noch etwa 1,6 Millionen Menschen. Aber jetzt, da ich selbst die Präsenz eines gefährlichen Virus in meinem Körper gespürt habe, habe ich einen andere Perspektive. SARS-CoV-2 wird mein Leben verändern, das ist mir klar. Man fühlt sich verletzlicher.
SARS-CoV-2 wird mein Leben verändern, das ist mir klar. Man fühlt sich verletzlicher. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Im Jahr 1976 gehörte ich zu dem Team, das die allererste Ebola-Krise in der kongolesischen Stadt Yambuku untersuchte. Damals war ich 27 Jahre jung und abenteuerlustig. Es ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe. Wir erhielten Blutproben von Patienten in Thermosflaschen, und ich nahm Blut von Patienten ohne Mundmaske oder Schutzkleidung ab.
Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass das Wichtigste im Leben die Abwesenheit von Widrigkeiten ist. Während dieser Reise habe ich mich einmal geweigert, an Bord eines Hubschraubers zu gehen, weil der Pilot betrunken war und es ein Gewitter gab. Er stürzte während des Fluges ab. Niemand überlebte, auch nicht der Mann, der froh war, meinen Platz einzunehmen. Über Ebola bin ich allerdings nicht so besorgt. Es ist ein tödliches Virus, aber es ist nicht an Menschen angepasst.
Der Zytokinsturm sorgt für Atemnot
Eine Woche nach meiner Entlassung aus der stationären Behandlung wurde ich immer kurzatmiger. Ich musste zurück ins Krankenhaus, aber glücklicherweise konnte ich mich ambulant behandeln lassen. Ich schien an einer neuen Lungenkrankheit zu leiden, die durch einen so genannten Zytokin-Sturm verursacht wurde. Das ist eine Folge davon, dass das Immunsystem einige Gänge schneller schaltet.
Viele Menschen sterben nicht an den durch das Virus verursachten Gewebeschäden, sondern an den übertriebenen Reaktionen ihres Immunsystems, das nicht weiß, was es damit anfangen soll. Gegen diese Symptome muss ich immer noch behandelt werden, mit hoch dosierten Kortikosteroiden, um das Immunsystem zu bremsen. Wenn ich diesen Zytokin-Sturm zusammen mit den Symptomen des Virenausbruchs in meinem Körper bekommen hätte, hätte ich nicht überlebt.
Meine Herzfrequenz ist auf 170 Schläge pro Minute gestiegen – auch das musste medikamentös behandelt werden. Es handelt sich um einen unterschätzten Faktor des Virus: Er kann wahrscheinlich alle Organe unseres Körpers befallen.
Mehr als eine harmlose Grippe
Viele Menschen denken, COVID-19 sei eine Erkrankung ist, die 1 Prozent aller Patienten töte, während der Rest mit grippeähnlichen Symptomen davonkomme. Aber die Geschichte ist komplizierter. Viele Menschen werden nach einer Infektion chronische Probleme mit ihren Nieren und ihrem Herz entwickeln. Sogar ihre Nerven können in Mitleidenschaft gezogen werden.
Ohne einen Corona-Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Es wird Hunderttausende von Patienten weltweit geben, möglicherweise noch mehr, die für den Rest ihres Lebens behandelt werden müssen. Je mehr wir über das Coronavirus erfahren, desto mehr Fragen stellen sich. Das Virus ist für jeden neu. Deshalb bekomme ich schlechte Laune von Menschen, die Wissenschaftler und Politiker kritisieren, die hart daran arbeiten, das Virus unter Kontrolle zu bringen. Das ist sehr unfair.
Angangs eine unterschätzte Bedrohung
Ich bin mit dem Leiter des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention gut befreundet. So konnte ich die Entwicklungen in der Corona-Krise von Anfang an, ab Januar, genau verfolgen. Ursprünglich dachten wir, es handele sich um eine neue Version des SARS-Virus, das 2003 in China auftrat, aber nur relativ geringe Auswirkungen hatte.
Wenn sich viele Menschen nicht impfen lassen, werden wir die Pandemie nie unter Kontrolle bekommen. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Ende Januar wurden auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos die Pandemie-Sitzungen abgesagt, weil niemand sie für notwendig hielt. Aber wir wussten, dass wir ein großes Problem haben würden, wenn das Virus weltweit ausbrechen würde. Und es wurde global. SARS manifestiert sich tief in der Lunge, während das neuartige Coronavirus auch die oberen Atemwege befällt, wodurch es sich leichter verbreiten kann. Ich bin überzeugt, dass die durch das Virus verursachte Sterblichkeitsrate stark unterschätzt worden ist.
Der nächste Schritt: Suche nach Impfstoffen und Therapeutika
Heute (2. Mai, Anm. d. Übers.) fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mehr oder minder in Form. Ich habe weißen Spargel gegessen, den ich bei einem türkischen Gemüsehändler um die Ecke bestellen konnte. Ich komme aus Keerbergen, einer Spargelgemeinde.
Die Bilder meiner Lunge sehen endlich besser aus. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine gute Flasche Wein geöffnet. Ich möchte wieder an die Arbeit gehen, auch wenn meine Kraft für eine Weile eingeschränkt sein wird. Das erste, was ich wieder aufgreife, ist meine Arbeit als Corona-Berater der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen.Die Kommission wird sich intensiv um die Entwicklung eines Impfstoffs bemühen. Um es klar zu sagen: Ohne einen Corona-Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können. Die einzige wirkliche Ausstiegsstrategie aus dieser Krise ist ein Impfstoff, der weltweit eingeführt werden kann. Dazu gehört nicht nur die Entwicklung des Impfstoffs, sondern auch die Herstellung von Milliarden von Dosen und Ampullen, was allein schon für die Logistik eine große Herausforderung darstellt. Trotz der unternommenen Anstrengungen wissen wir noch nicht, ob es möglich sein wird, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Im schlimmsten Fall werden wir nur versuchen können, den Schaden durch das Virus zu begrenzen.
Bei der Arzneimittel-Entwicklung müssen wir vorerst bescheiden bleiben. Ein Vergleich: Nach vielen Jahren intensiver Forschung haben wir immer noch kein Heilmittel gegen Grippe. Man kann ein wenig in die Symptome eingreifen und die Krankheit verkürzen, aber das ist keine wirkliche Behandlung. Es besteht die Aussicht auf eine frühe Behandlung für COVID-19. Aber wenn die Krankheit zu weit fortgeschritten ist, werden Medikamente nicht mehr helfen.
Folgen für die Gesellschaft
Wir werden gründlich darüber nachdenken müssen, welche Maßnahmen wir ansetzen müssen, welches Gleichgewicht zwischen öffentlicher Gesundheit und Wirtschaft sinnvoll ist. Wir müssen uns jedoch davor hüten, in Eugenik-Debatten zu verfallen.
Hier in England fordern einige Behörden bereits einen Stopp aller medizinischen Behandlungen für Menschen über 70 Jahre. Dann ist es nicht mehr nur ein Virus, welches die Schwächsten unserer Gesellschaft auf grausame Weise zu Opfern macht. Ich bestehe darauf, dass jedes Menschenleben unter allen Umständen wichtig ist.
Übrigens weiß ich nicht, ob ich jetzt gegen das Virus immun bin, nachdem ich so krank war. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Es wird derzeit viel über die Rückverfolgung von Kontakten gesprochen, um das Virus unter Kontrolle zu halten. Ich habe mich sicherlich in England infiziert, nicht an einem exotischen Ort. Aber ich hatte in der Woche vor meiner Infektion mit mindestens 150 Menschen Kontakt. Das ist eine Menge.
Übrigens weiß ich nicht, ob ich jetzt gegen das Virus immun bin, nachdem ich so krank war. Denn selbst elementare Informationen über die Resistenzbildung sind immer noch nicht vorhanden.
Haben wir die drohende Gefahr ignoriert?
Seit 2014 habe ich des öfteren einen Vortrag über die Frage gehalten: „Sind wir bereit für die nächste Pandemie?“ Wir waren sicher, dass wir gewappnet sind. Und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich um ein Atemwegsvirus handeln würde. Vergleichbar mit der Gefahr, die dauerhaft über Kalifornien schwebt: ein riesiges Erdbeben, welches das Silicon Valley von der Landkarte tilgen könnte. Die Frage lautet in beiden Fällen nicht, ob es passieren wird, sondern wann – nächste Woche oder in 100 Jahren? Die Frage ist auch, wie man die Welt auf eine Pandemie vorbereiten kann, ohne den Zeitpunkt zu kennen.
Man erkennt, dass große Ziele, die nach SARS oder nach dem Ausbruch der Schweinegrippe 2009 formuliert worden waren, stillschweigend in bürokratischen Schubladen gelandet sind, sobald die Krise von den Titelseiten verschwunden war. Als ob man die Feuerwehr abschafft, sobald ein Haus gelöscht worden ist, und erst beim nächsten Brand wieder neu gründet. Auf diese Weise geht wichtige Zeit verloren, wenn die Krise dann auftritt. Der Titel meines Buches über die Viruskrisen ab 2012 lautet deshalb auch „No Time to Lose: A Life In Pursuit Of Deadly Viruses“.
Wir wissen nicht, was uns im Falle einer neuen Pandemie erwartet. Es sind reale Horrorszenarien möglich, wie zum Beispiel eine Kombination der Infektiosität des Corona- und der Sterblichkeit des Marburg-Virus. Letzteres tötet 90 Prozent aller Infizierten.
Auch für Viren werden die Umstände besser. Es gibt mehr Menschen als früher, wir leben enger zusammen und wir reisen mehr: viele Faktoren, die eine Übertragung der Viren von Tieren auf Menschen fördern. Die Chancen, dass ein ansteckender Virusausbruch heute auf eine Provinz in China beschränkt bleibt, gehen praktisch gegen null.
Ein ständiger Wettlauf zwischen Mensch und Mikrobe
Auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion stellt ein Risiko dar. Manchmal ist es gut, skeptisch gegenüber der Bürokratie zu sein, die im Bereich der Lebensmittelhygiene und -kontrolle entstanden ist. Aber sie hat unser Leben sicherer gemacht. Die Tatsache, dass Milch jetzt pasteurisiert wird, hat die Übertragung von Tuberkulose von der Kuh auf den Menschen praktisch ausgerottet. Der berühmte französische Mikrobiologie-Pionier Louis Pasteur sagte einmal: „Mikroben werden immer das letzte Wort haben.“ Wir haben es irgendwie vergessen, denn Antibiotika und Impfstoffe haben im letzten halben Jahrhundert so viele Leben gerettet.
Als Kind hatte ich Masern und Keuchhusten, aber heute sind die meisten Kinder von diesem Elend verschont. Vielen Menschen ist nicht klar, dass wir unser langes Leben diesen wissenschaftlichen Durchbrüchen verdanken.
Aber wir leben in einem ständigen Wettlauf mit Mikroben. Viele Bakterien haben Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt, und wenn wir dieses Problem nicht lösen, drohen Katastrophen. Schwere Operationen und Krebsbehandlungen werden dann unmöglich.
Wir erleben jetzt auch das Paradoxon, dass Menschen, die ihr Leben Impfstoffen verdanken, nicht mehr wollen, dass ihre Kinder geimpft werden. Dies kann zu einem Problem werden, wenn wir einen Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt bringen wollen. Wenn sich viele Menschen nicht impfen lassen, werden wir die Pandemie nie unter Kontrolle bekommen.
Ich denke, das ist die Folge der „Zersplitterung“ in Einzelmeinungen, etwa durch Social Media. Das beobachte ich auch in der Politik. Schauen Sie sich den Brexit hier in England oder die föderale Regierungsbildung in Belgien an. Aber irgendwann müssen wir anfangen, aussagekräftige Antworten zu formulieren.
Daran gibt es keinen Zweifel: Die durch das Coronavirus verursachte wirtschaftliche Schockwelle wird größer sein als die nach der Finanzkrise 2008. Die Europäische Kommission betrachtet sie als die größte Krise unserer Zeit. Es wird schwerwiegende Folgen in Bezug auf Armut und Arbeitslosigkeit haben. Wir werden sie in unser Gesellschaftsmodell integrieren müssen..
Es ist vorhersehbar, dass selbst die langsame Freigabe der Maßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Zahl der Krankheitsfälle führen wird. Prof. Dr. Dr. Peter Piot
Die große Frage ist, ob noch in den Kampf gegen die globale Erwärmung investiert werden kann, die sich deutlich beschleunigt. Man könnte auch argumentieren, dass mehr Menschen an Krebs oder an den Folgen des Rauchens sterben. Aber zu wenige Menschen erkennen, wie zerstörend dieses Virus für unsere Gesellschaft ist.
Wie werden Menschen auf eine Maßnahme reagieren?
Unsere zunehmende Individualisierung kollidiert mit den fast mittelalterlich anmutenden Quarantänemaßnahmen, die wir jetzt ergreifen, um das Virus einzudämmen. Wir können einerseits so nicht weitermachen – man spürt schon, wie die Geduld vieler Menschen nachlässt. Aber es ist vorhersehbar, dass selbst die langsame Freigabe der Maßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Zahl der Krankheitsfälle führen wird, was erneut Kritik auslösen wird.
In meinem Institut arbeiten 30 brillante Mathematiker an Modellen, wie sich eine Viruserkrankung entwickelt. Es gibt jedoch immer ein entscheidendes Element, das sich ihrer Kontrolle entzieht: Wie werden die Menschen auf eine Maßnahme reagieren? Das ist natürlich von Ort zu Ort unterschiedlich. Was in Singapur möglich ist, ist bei uns vielleicht nicht möglich.
Ich hoffe, dass die Krise die politischen Spannungen in einer Reihe von Bereichen mildern wird. Es mag eine Illusion sein, aber wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Kampagnen für Polio-Impfungen hier und da zum Waffenstillstand geführt haben.
Ebenso hoffe ich, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die eine hervorragende Arbeit im Kampf gegen COVID-19 leistet, reformiert werden kann, um sie weniger bürokratisch und weniger abhängig von den beratenden Ausschüssen zu machen, in denen die einzelnen Länder hauptsächlich ihre eigenen Interessen vertreten. Infolgedessen wird die WHO allzu oft zu einem politischen Spielball.
Wie dem auch sei: Ich bleibe ein Optimist. Und jetzt, da ich den Tod vor Augen gesehen habe, ist meine Toleranzbereitschaft gegenüber Unsinn und Bullshit noch gesunken. Ich werde also weitermachen, ruhig und enthusiastisch, wenn auch selektiver als vor meiner Krankheit.
In England muss man nicht – wie etwa in Belgien – mit 65 Jahren in Rente gehen. Ich betrachte die Zwangsversetzung in den Ruhestand als eine Verletzung der Menschenrechte und als Diskriminierung aufgrund des Alters. Aber mit einem Buch an einem Strand zu liegen, ist sowieso nichts für mich.
Der Artikel wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert.
Über Prof. Dr. Dr. Peter Piot
- 1949 in Keerbergen (Belgien) geboren
- 1974 Promotion an der Universität Gent
- 1976 entdeckte er zusammen mit Kollegen das Ebola-Virus im Kongo
- 1980 Promotion in Mikrobiologie an der Universität Antwerpen
- 1980-1992 Professor für Mikrobiologie am Institute of Tropical Medicine Antwerpen
- 1992-1995 AIDS-Experte bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
- 1995-2008 Leiter von UNAIDS
- Seit 2010 Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine
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- nterview in Knack, 05. Mai 2020
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